Digitalisierung: Vom Deutschunterricht lernen!
Ich hatte in den letzten Tagen einige Gespräche, Mails und Fragen zum Thema Digitalisieurung und digitale Bildung in den Schulen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass sich in Teilen der Kollegien etwas ändert und dass in Teilen eine ungeahnte Offenheit in Gang kommt. Ich denke, das liegt an vielem, z.B. an den Kapersky-Warnungen, an der offenkundigen Mediensituation in Russland oder an den Problemen, die Schulen aufgrund von sog. TikTok-Challenges haben. An vielen Stellen wird deutlich, wie Medien und vorallem durch Algorithmen individualisierte Medien unsere Realität und das Leben unserer SuS beeinflussen.
Ich möchte mal einen Vergleich mit dem Fach Deutsch wagen: Bis vor ein paar Jahren , es ist noch nicht lange her, war der Zugang von außen zu uns Menschen, zu unserem Verhalten, zur Beeinflussung von Menschen sehr stark durch Sprache (Print, Radio) und Fernsehen geprägt. Diese Zugänge zu Menschen haben von Ihrer Machart her und aufgrund der Kapazitäten von Verlagen und Medienanstalten immer große und damit auch heterogene Zielgruppen angesprechen müssen. Damit unterlagen alle Äußerungen und Mitteilungen immerhin einem Mindestmaß an Transparenz und demokratisierter Kontrolle.
Wer in diesem Umfeld als Bürger sprachlich einigermaßen fit, fähig, unabhängig und kritisch trainiert war, dem war der Zugang zu „guten“ Informationen und zu echter Meinungsbildung sehr gut möglich, der konnte gute von schlechten Informationen unterscheiden. Das, was z.B. meine Mutter Gertrud im Fach Deutsch lernte – Volksschule von 1941 bis 1949, hat in Verbindung mit einer christlichen, eher nazikritischen, oberschwäbischen und braven Erziehung ausgereicht, um im Leben einigermaßen selbstbestimmt und kritisch bestehen zu können.
Als Lehrer haben wir sogar alle Abitur und studiert. Wir haben uns zumindest 13 Schuljahre lang im Fach Deutsch mit Sprache beschäftigt: Von der Rechtschreibung bis zum Bericht, von der Lyrik bis zum Roman haben wir Sprache gedreht, gewendet, geknetet, seziert und immer, immer, immer wieder angewendet. Und im Studium haben wir uns – wohl fast alle – mit den spannenden Themen der jeweiligen Zeit via Print, Funk und Fernsehen beschäftigt. All das ist für uns eine stabile Säule im Leben.
Seit gut zehn Jahren hat sich Grundlegendes verändert. Menschen werden von außen komplett anders erreicht. Durch sog. soziale Medien, durch Suchmaschinen etc. werden Menschen algorithmengesteuert angesprochen. Unsere Kommunikation wird von Algorithmen massenhaft und individualisiert gelenkt und ausgewertet. Wir liefern den Algorithmen mit jedem Tastenschlag, mit jedem Bild, mit jeder Äußerung, mit jeder Frage, mit jeder Antwort innerhalb einer cloudbasierten Anwendung Informationen über uns selbst. Weil uns die Algorithmen „kennen“, können wir regelmäßig (in Kampagnen, in Wahlwerbung, in der aktuellen Kriegsberichterstattung, …) „individualisiert und passend“ informiert oder manipuliert werden.
Hing früher das FDP-Wahlplakat sowohl für den Sozialhilfeempfänger als auch für den reichen Erben gleichermaßen gut sichtbar an der Ampelkreuzung, so können heute beide passend, verborgen durch „individualisierte Wahlwerbung“ informiert und angelogen werden. Die Algorithmen suchen in unseren eifrig gefütterten digitalen Clonen und Avataren die Achillesferse und wenden diese Erkenntnisse auf uns reale Menschen mit guten und bösen Absichten an. Bei uns „Alten“, bei uns Lehrern sollte das relativ wurscht sein – unser Leben ist bei den meisten von uns „nahe oder hinter dem Zenit“, wir sind gesettelt, stabil und lebenserfahren.
Für unsere SuS ist das anders und eben nicht wurscht. Sie sind im Wachsen, Werden, Reifen, Suchen. Sie sind für viele, viele Akteure am Informationsmarkt eine lukrative Zielgruppe oder gar leichte, empfängliche Beute. Um unsere SuS in diesem Umfeld fit, fähig, unabhängig, selbstbestimmt und kritisch zu machen, müssen wir als Schule ein unabhängiges und selbstbestimmtes digitales Umfeld schaffen.
Wir können nichts erreichen, wenn wir mit vielen Anwendungen, Clouds, Apps ständig das genaue Gegenteil vorleben.
Innerhalb eines unabhängigen und selbstbestimmten digitalen Umfeldes können wir uns auf einen Weg machen und Digitalisierungsbildung mit unseren SuS definieren, entwickeln, drehen, wenden, kneten, sezieren und immer, immer, immer wieder anwenden. Jeder Kollege auf seine Weise, jeder mit seinen Möglichkeiten. Das braucht zuerst Strategie, dann Planung, dann Realisierung. Let’s go.
Des Deutschlehrers Aufgabe könnte es sein, Meinungsaustausch in einem Forum zu leben. Immer und immer wieder. Der Geschichtslehrer lässt die Hausaufgaben in einem öffentlichen Wiki machen. Die Mathelehrerin checkt jede App auf Herkunft und sie erschließt jeden Monat ein Thema via Tabellenkalkulation. Der NwT-Lehrer programmiert elektronische Schaltungen und baut ein komplett eigenes Kommunikationsnetzwerk mit den Schülern. Die Französischlehrein erläutert in Landeskunde, warum Frankreich das FOSS-Projekt „LibreOffice“ unterstützt und sie lässt Schüler Texte im hauseigenen Moodle einsprechen. Tausendundeine ergonomisch in unsere Curricula passende Möglichkeiten liegen auf der Hand und warten nur darauf, von uns wachgeküsst zu werden.
Und JA! Wider den Ungeist der App-Äpp-Digitalidäp-Bewegung fragen wir ganz selbstverständlich, ehrlich und kritisch nach dem Wert und vorallem auch nach dem Mehrwert.
Jede Zeit hat ihre Themen: Könnten wir alle auf solch ein eigenes, geschütztes, kluges, faires digitales Schulumfeld stolz sein? Könnten wir Lehrer – als stolze Vorbilder – auch unseren SuS diesen Anspruch vermitteln? Meinen Lehrern am Pestalozzigymnasium in Biberach/Riss ist es in den damaligen Kontexten, mit den damaligen Herausforderungen, bei den damaligen Themen auf eine vergleichbare Weise gelungen – als stolze Vorbilder mit Anspruch.